Chile desperto! - eine Analyse der Primera Línea
Chile desperto! - eine Analyse der Primera Línea
Chile despertó! – an analysis of the Primera Línea ist eines der drei Druckwerke, der Ausstellung “Chile Unfolded”. Das Buch enthält eine Analyse einer neuen Topographie des Protests der “Primera Línea”, welche sich im Rahmen der sozialen Unruhen ab Oktober 2019 in Chile entwickelte. Die Primera Línea bildet eine Front, die sich gegen die repressiven Kapazitäten des chilenischen Staates erhob, um die Räumungen der Demonstrationen zu verhindern und die großen Kundgebungen des Protests aufrecht zu erhalten. Dabei sind die Menschen, die sich der Primera Línea anschließen, in verschiedene Aufgabenbereiche unterteilt, die alle aus der Notwendigkeit in der jeweiligen Situation entstehen. In “Chile despertó!” liefern Benjamin Bräuer und Kjell Wistoff eine grafische Analyse der Protest Orte, Symbole und den Akteur:innen der Primera Línea sowie den repressiven Kapazitäten der Carabineros. Ergänzt werden die Illustrationen durch Interviews von Chilen:innen.
Historischer Hintergrund
Um den Spannungsaufbau bis zum Ausbruch der Proteste 2019 zu verstehen, muss fast 50 Jahre in die Vergangenheit, zum Beginn der Pinochet-Diktatur geschaut werden. Dem sozialen Ausbruch gehen viele Jahre neoliberale Wirtschaftspolitik voraus, welche immer wieder für Proteste gesorgt haben, jedoch bis Oktober 2019 nicht in diesem Ausmaß. Unsere Analyse enthält eine Zeitleiste, welche die einzelnen Schlüsselereignisse vor, während und nach dieser Explosion der Proteste veranschaulicht. Sie visualisiert die aufeinander folgenden Ereignisse im Verhältnis zueinander. Weniger mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, sondern mit einem Fokus auf die wichtigsten Elemente, um die Geschehnisse einordnen und verstehen zu können.
Der Ort des Protests - La Plaza Dignidad
Der Ort des Protests - La Plaza Dignidad
Der zentrale Versammlungsort in Santiago ist der Plaza Dignidad. Er ist ein wichtiges Wahrzeichen der Stadt und trägt offiziell den Namen Plaza Baquedano, wurde aber von der Bevölkerung während der Proteste in „Plaza Dignidad“ / „Platz der Würde“ umbenannt. Während sich der große „friedliche“ Protest zum Höhepunkt der Proteste vor allem im Zentrum dieses Platzes abspielt, sind die Auseinandersetzungen zwischen Carabineros und der Primera Línea vor allem entlang der Zufahrtswege zum Platz zu beobachten. In unserer Analyse beziehen wir uns in erster Linie auf die Kreuzung westlich des Platzes, der sogenannten “zona zero”.
Die Akteure - La Primera Línea
Durch unsere Analyse konnten wir feststellen, dass die Primera Línea eine neue Topographie des Protests bildet, die durch gezieltes Handeln einen großen vielfältigen friedlichen Protestraum erst ermöglicht. Ihre dezentrale Organisation, Furchtlosigkeit und Arbeitsteilung in verschiedene thematische und räumliche Bereiche ermöglicht es ihr, sich gegen die hierarchische Ordnung des Staates zu behaupten. Wir haben im folgenden acht Akteure identifiziert, deren Wichtigkeit und Aufgaben in unserer Publikation dargestellt werden. Alle Akteure tragen mit ihren spezifischen Aufgaben dazu bei, den friedlichen Protest zu ermöglichen. Wichtig ist, dass alle Aktionen der Demonstranten aus der Not heraus entstehen. Die Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Gruppen ergibt sich jeden Tag aus einer neuen Situation, weshalb es kein einheitliches, klar definiertes Bild einer Gruppe der Primera Línea gibt. Anders als bei der Hierarchie der Carabineros gibt es keinen Anführer des Protests. Alle beteiligten Akteure entscheiden in Abhängigkeit von der Repression durch die Carabineros, ob und in welcher Position sie aktiver Teil der Primera Línea sein wollen. Die repressiven Maßnahmen des Staates wurden gegen die Primera Línea ausgeschöpft, und nur auf diese Weise konnten unzählige Kundgebungen stattfinden.
Menschenrechtsverletzungen - Los Carabineros
Menschenrechtsverletzungen - Los Carabineros
Den Demonstranten steht eine bewaffnete Militärpolizei gegenüber – „los Carabineros“. Die Carabineros de Chile unterliegen dem Kodex der Militärjustiz und den internen Vorschriften, was dazu führt, dass Gesetzesverstöße noch weniger verfolgt und geahndet werden, als dies bei Polizeibeamten im Allgemeinen bereits der Fall ist. Das Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung wird von den Carabineros de Chile systematisch verletzt. Sie sind schon lange für ihre exzessive Gewaltanwendung berüchtigt. Allein 2019 gab es nach den Protesten rund um „el estallido“ am 18. Oktober 3.649 Verletzte unter den Demonstrierenden. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Unsere Analyse enthält eine Aufschlüsselung der Taktiken und Equipment der Carabineros um zu verdeutlichen mit welchen Mitteln sich die Demonstrierenden diesen entgegenstellen müssen um den Protest erfolgreich durchführen zu können.
Analyse der Bewegungen - Mappings
Analyse der Bewegungen - Mappings
Neben den Akteuren und ihren Objekten empfanden wir die Bewegung innerhalb des Protestraums als besonders relevant und haben deshalb die einzelnen Akteure im Raum analysiert, um deren Handeln nachzeichnen zu können. In der Auswertung von Videomaterial ergibt sich oft ein unübersichtliches, wirres Bild, welches wir aufgeschlüsselt haben um eine erfolgreiche Protestdynamik herausstellen zu können. Die Bewegungsabläufe lassen sich an Hand von transparenten Papieren überlagern und so die einzelnen Phasen und Akteure besser nachvollziehen.
Über das Projekt
Diese Analyse soll Aufmerksamkeit auf einen Protest lenken, der in den westlichen Medien unterrepräsentiert ist – den Protest der chilenischen Bevölkerung. Da in der heutigen Zeit nahezu alle Situationen gefilmt und anschließend ins Internet gestellt werden können, basiert die Analyse größtenteils auf der Aufarbeitung von hunderten Stunden Videomaterial, sowie auf persönlich gesammelten Eindrücken vor Ort. Wir haben uns bemüht, ein möglichst verständliches und transparentes Werk zu schaffen, mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen. Es handelt sich trotz intensiver Recherchearbeit viel mehr um ein Nachzeichnen, als um ein allumfassendes Verständnis der Situation von innen heraus. Mit anderen Worten, die Realität unseres Lebens und der daraus resultierende Blick aus einem westeuropäischen Land erlaubt es uns nicht, die Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit zu erfassen.